Neben den für mich rückschrittlich anmutenden und zum Teil durch soziale Medien mehr oder weniger gewollt (siehe Dokumentation “The Great Hack” zu Cambridge Analytica) befeuerten Entwicklungen und Tendenzen gesellschaftliche Minderheiten gegeneinander anzustacheln, gibt ein kleiner Essay von Stefan Schultz eine für mich überraschend positive Wendung und ein wenig Zuversicht. Dafür bin ich gerade ein wenig dankbar und hoffe diese Stimmung hält noch eine Weile. Ich versuche in diesem Beitrag seine Darstellungen aus dem Artikel vom 19.2.2019 zusammengefasst darzustellen.
Jane Loevingers Modell
Jane Loevinger ist bekannt für ihr Modell der Ich-Entwicklung. Anhand von zahlreichen Studien hat sie das menschliche Handeln, Fühlen, Denken in 10 Stufen eingeteilt. Jeder Mensch beginnt mit Stufe 1 und entwickelt sich im Laufe seines Lebens in höhere bzw. differenziertere Stufen hinein. “Oft verteilt sich unsere Entwicklung auf vier oder mehr Stufen, auf einer davon aber hat das Ich seinen Schwerpunkt.”
Hierbei handelt es sich wie bei eigentlich allen Versuchen, das komplexe menschliche Sein in ein vereinfachtes, wertneutrales Modell zu gießen, um ein Konstrukt, also eine Annäherung an das zu erforschende Objekt. Es geht bei Konstrukten folglich darum, einen Versuch zu unternehmen, sich etwas eigentlich nicht 100 Prozent greifbares, haptischer zu formen. “Es ist aber mittlerweile Konsens, dass Loevingers Theorie zumindest eine gute Orientierung gibt, […].”
Die Skalierung von Jane Loevingers Modell
Seit den 60er Jahren bis heute wurden dazu zahlreiche Daten zur Verbreitung der Ich-Stufen im Raum Nordamerika, Mitteleuropa und Westeuropa erhoben. So konnte man dieses entwicklungspsychologische Konzept, von der ursprünglichen Individual-Perspektive herkommend, auf eine gesellschaftliche Dimension skalieren und nun anhand der sich ergebenden Entwicklungstendenzen für eine Zukunftsbetrachtung nutzen.
Zusammengefasst kann man sagen, dass umso größer die gesellschaftliche Dominanz von höheren Entwicklungsstufen ist, umso ausgeprägter sind auch Werte wie Selbstbestimmung, Offenheit, demokratische Haltung. In den unteren Stufen ist der Glaube an Autorität, Ethnozentrismus stärker ausgeprägt, jedoch nehmen diese Vorstellungen ab Stufe E5 und höher stark ab.
Der Blick von der Vergangenheit in die Zukunft
Die Ergebnisse und und Folgerungen der Wissenschaftler lassen einen aufhorchen:
“ […] die Zahl der Bürger auf späteren Entwicklungsstufen in westlichen Gesellschaften [hat sich] über die letzten 100 Jahre erhöht […].” So ließe sich auch nachvollziehen, dass sich seit den 1950er Jahren autoritäre Strukturen in den Bereichen Schule, Familie, Arbeit, Ehe dezimiert haben.
Gesellschaften legen wohl unterschwellig Idealstufen fest, die sich für das Individuum bewusst oder unbewusst als erstrebenswert verinnerlichen. Aktuell ist das in der westlichen Hemisphäre wohl die Stufe E6. Diese Stufe charakterisiert Menschen ganz grob wie folgt:
- Streben nach Verwirklichung von Lebenszielen
- Zukonftsorientierte Machertypen
- Zielstrebigkeit
- leistungsorientiert
- über Zeitnot klagend
Rund ein Zehntel der westlichen Gesellschaft ist bereits auf Stufe E7 zu verorten. Diese Stufe charakterisiert sich durch ganz andere Lebensauffassungen:
- Bedeutung der Dinge ist relativ
- Einsicht, dass Meinungen und Bewertungen von der jeweiligen Perspektive und Prägung (sozial und kulurell) abhängen
- Kritisches Hinterfragen und reflektieren von bisher als Norm geltenden Konventionen
- Diversität, Gleichheit, Verteilungsgerechtigkeit werden als positive Werte gesehen
- Nationalität als identitätsstiftendes Merkmal nimmt ab
- Weniger Reiz dem Leistungsideal zu folgen
- Selbstverwirklichung und Sinnhaftigkeit als zentrales Identitätsmerkmal
- Geld und konventioneller Status weniger wichtig
Man geht wohl davon aus, dass sich der Anteil an E7 durch die steigende Leichtigkeit (vgl. Digitalisierung) an kulturübergreifende Informationen zu kommen, weiter erhöhen wird. Umso mehr dies geschieht werden sich Gesellschaften und Unternehmen fragen müssen wie sie sich in Zukunft organisieren wollen, da die autoritären – eigentlich schnellen Entscheidungsprozesse – unter einer dominierenden E7 nicht mehr so greifen können. Für eine gesellschaftliche Transformation zur E7 sprechen aktuell auch folgende Tendenzen:
- Aufstieg der Grünen
- Mehr Teilzeitarbeitsmodelle
- Mehr und mehr Diskussionen zur Gerechtigkeitsverteilung,
- Sowie alternative Partnerschaftsmodelle (polyamore Beziehungen etc)
- Diskussionen zur Frauenquote, #MeToo
- Gesteigerte Nachfrage an Persönlichkeits-Coaches
Und was ist mit der Entwicklung in die andere Richtung?
Aus dem Blick der Ich-Entwicklungsstufen betrachtet liegt das Weltbild der AfD auf den Stufen E3-E5. Politisch feiert sie einen Erfolg nach dem anderen. Der renommierte Ich-Forscher Dr. Thomas Binder stuft den gewählten Präsidenten der USA Donald Trump auf der E3 (“Selbstorientierte Stufe”) ein. Executive-Managerinnen in Deutschland haben einen Anteil von 8,6 Prozent gegenüber Männern.
Eine These, welche diese im Verhältnis diametralen Entwicklungen erklären könnte, ist die gesellschaftliche Verunsicherung die eintritt wenn Menschen auf den Stufen E1-5 sich durch eben diese sich beschleunigende Digitalisierung, Globalisierung etc. abgehängt fühlen.
Und was könnte hier helfen?
Welche Chance bietet sich an dieser Stelle? Ich fasse die bestehende Idee kurz zusammen: Bedingungsloses Grundeinkommen, ermöglicht durch gesteigerte Produktivität mittels Automatisierung und künstliche Intelligenz. Gleichzeitig Fluch und Segen. Segen, da es den Fokus auf Selbstverwirklichung erlauben würde, aber was ist dann mit den Menschen auf den Stufen bis zur E5? Fühlen die sich nicht noch abgehängter? Wie damit umgehen?
Sollte die Gesellschaft sich weiter Richtung E7 entwickeln wäre es wichtig, dass die Menschen, die in gesellschaftlich relevanten Verantwortungspositionen sind, bereits auf Stufe E8 wären, denn diese können “multiperspektivisch denken”, sich selbst noch besser reflektieren und “Bedürfnisse unterschiedlichster Gruppen berücksichtigen” und in “widersprüchlichen Welten” agieren.