Über Kriegsenkel und Kriegskinder – Ein ressourcenorientierter Blick

In diesem Beitrag fasse ich den Artikel “Kriegsenkel in Therapie und Beratung – Vom Leid zur Ressource” von Ingrid Meyer-Legrand zusammen. Der Artikel ist erschienen im Buch “Leben ist Begegnung”, herausgegeben von Ruthard Stachowske im Asanger Verlag 2017. Die Autorin ist selbst systemische Therapeutin in eigener Praxis in Berlin und Brüssel und Verfasserin des Buches “Die Kraft der Kriegsenkel”. Das Thema der transgenerationellen Traumaübertragung finde ich besonders spannend, da es sich stark mit meiner eigenen Biografie verknüpfen lässt. Gerade auch die ressourcenorientierte Perspektive der Autorin waren der Grund weshalb ich diesen Artikel im Folgenden zusammenfassen möchte.

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Der Artikel

Meyer-Legrand nutzt in ihrem Beitrag häufig die Begriffe Kriegsenkel und Kriegskinder. Bei den Kriegskindern handelt es sich um die Generation (Jahrgänge 1928-1946) die den zweiten Weltkrieg (II WK) als Kinder oder Heranwachsende am eigenen Leib erfahren hat, sei es durch Morde von Angehörigen, Flucht oder Vertreibung und auch eigene Tätererfahrungen. “Nächte in Luftschutzkellern, Vergewaltigungen, Flucht und Vertreibung standen am Anfang ihrer Kindheit, in der sie lernten, dass für ihre Bedürfnisse kein Platz war. (…)” Das Leid dieser Kinder stand im Hintergrund, denn es ging einfach darum zu überleben, “(…) und das in einer Lebensphase in der die jungen Menschen am durchlässigsten und am meisten zu beeindrucken waren (…)”. Man dachte damals noch, dass Kinder ihre Umwelt nicht so stark wahrnehmen. Als Erwachsene sprachen die Kriegskinder dann tendenziell wenig über ihr erfahrenes Leid. Heute weiß man, dass nicht das Trauma allein zur eigentlichen Belastung wird, sondern vielmehr auch der Umgang damit. Den Kriegskindern wurde demzufolge nicht zugehört, sie wurden nicht getröstet.

Die Nachkommen dieser Generation beschreibt die Autorin als die Kriegsenkel (Jahrgänge ca. 1950 – ca. 1980). In anderen Zusammenhängen wird diese Generation auch als die Babyboomer bezeichnet oder auch als “Konsumkinder”, denn sie sind in einer (materiell) wohlhabenden, Wachstumsgesellschaft aufgewachsen. Aus ihrer Beratungspraxis heraus nennt die Autorin folgende Persönlichkeits-Spezifika wie Kriegsenkel sich oft beschreiben: Rastlosigkeit, Getriebenheit, Zweifel an Existenzberechtigung (außer man liefert super Leistungen), Gefühl der Entwurzelung, Nicht-Ankommen-Können, Sehnsucht nach Platz in der Gesellschaft. Sie werden häufig auch mit Selbstzweifel, Erschöpfung, Depression, Angststörungen in Verbindung gebracht (Die Seele und der Körper zeigen die Notwendigkeit von Pausen an).

Die spezielle Belastung der Kriegsenkel entsteht durch das Aufwachsen unter (kriegs)traumatisierten Eltern. “Mit diesem Erbe haben sich die Kriegsenkel von Beginn ihres Lebens auseinandersetzen müssen”.

Die Weitergabe des Traumas von den Kriegskindern zu den Kriegsenkeln, also die Sekundärtraumatisierung geschieht über einen Transformationsmechanismus, nämlich die Grundlegende Fähigkeit “(…) zur Empathie mit dem Leid anderer Menschen, so dass man auch von einer “Mitgefühlserschöpfung” (…) spricht.” Selbst wenn der Traumatisierte nicht über sein Trauma spricht, ist anzunehmen “(…) dass das Traum sich in allen Bereichen des sozialen Lebens zeigt.” Und so kann es sich dann auf die Folgegeneration übertragen.

Ein häufig auftretendes Phänomen ist die Parentifizierung, also eine Art Rollentausch. Die Kinder (Kriegsenkel) spüren das Leid der Eltern (Kriegskinder) und versuchen sich auf bestimmten Ebenen um sie zu kümmern oder deren Aufgaben und Aufträge (z.B.: Karriere machen, gute Schüler, nicht zur Last fallen) zu übernehmen, was zur Überforderung führt.

Diese Verbindung zu den Eltern ist eventuell auch als eine Art Gegenreaktion zur Entzweiung zwischen der Tätergeneration und der Generation der Kriegskinder zu verstehen. “Traue keinem über 30…”, ein alter 68er-Spruch. Einige Kriegsenkel suchen die Versöhnung, andere haben radikal mit ihren Eltern gebrochen (Teilweise haben sich diese (Kriegskinder) ja während des  Krieges in ihrer Jugend schuldig gemacht). Die Versöhnung wird heute durch die zunehmende gesellschaftliche Offenheit im Umgang mit diesem Thema tendenziell einfacher.

Blickt man nun auf die Potentiale dieser generationellen Verstrickung kann man folgendes erwähnen: Die Kriegskinder haben die Fähigkeiten entwickelt sich in einer Zeit, welche noch nicht vergleichbar war mit unserer heutigen Zeit der mobilen Gesellschaften, eine große Flexibilität anzueignen. Denn jederzeit konnten sich die Umstände verändern und da war schnelle Anpassung gefragt. Diese generationell übertragenen Fähigkeiten bieten den Kriegsenkeln ganz neue Möglichkeiten in unserer heutigen, offenen, demokratischen Gesellschaft. Es erleichtert ihnen das ‘immer-wieder-neu-Anfangen’, oder auch das ‘anders-sein-dürfen’ (z.B. Aussteigen aus gut bezahlten Jobs, Wunsch nach erfüllter Arbeit etc).

Durch systemische Methoden wie Genogrammarbeit und gleichzeitig auch einem Fokus auf das unmittelbare Erleben im Hier und Jetzt in Zusammenhang mit der aktuellen und selbst erlebten Zeitgeschichte sowie Meyer-Legrand’s Methode “My Life Storyboard” lässt sich ein positiverer Blick beim jeweiligen Klient erarbeiten. Ein befreiterer Blick, der weniger auf die bisherige erlebte Last, als auf die eigenen Stärken lenken kann. Zum Beispiel können daraus neue versöhnliche Einsichten der Kriegsenkelgeneration erarbeitet werden: Vor dem Hintergrund der elterlichen Zeitgeschichte “(…) können manche Kriegsenkel über ihre ‘gnadenlosen’ Eltern dann auch sagen: Sie waren die besten Eltern, die sie sein konnten.”

Der Blick auf die Ressourcen die ihre Wurzeln im Familiensystem haben stärkt auch das eigene Selbstbewusstsein. Zum Beispiel durch eine würdigende Betrachtung der Leistungen der Eltern, was diese alles im Leben ‘gestemmt’ haben. (z.B.: Überleben von Flucht, Migration, Cleverness im Umgang mit neuen Lebenssituationen etc.).

Dennoch ist auch wichtig zu erwähnen, dass auch das eigene individuelle Leid des jeweiligen Menschen aus der Kriegsenkelgeneration weiterhin auch gewürdigt werden muss. “Es darf bleiben, so lange es noch wehtut.”

Mit dem Modell ‘My Life Storyboard’ ist es möglich Lebensentscheidungen die der Klient bislang als problematisch betrachtet hat neu zu kontextualisieren. Die Methode verbindet zeichnerische Elemente mit Schreiben und basiert grundlegend auf der Methodik der Zeitlinienarbeit. Häufig erreicht man damit das Ziel eine Verbundenheit und Achtung vor dem eigenen Lebensweg zu entwickeln.

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